German UPA | Beitrag vom 02.07.2025
UX zerlegt sich selbst – und wird dadurch mächtiger

UX-Titel werden gestrichen, Aufgaben automatisiert, Zuständigkeiten verwischt. Auf den ersten Blick scheint das Berufsfeld UX an Kontur zu verlieren. Doch unter der Oberfläche passiert das Gegenteil: UX wird strategischer, systemischer und einflussreicher – vorausgesetzt, UX-Professionals sind bereit, alte Rollenmuster und Begrifflichkeiten zu hinterfragen. Diskussionen mit führenden UX-Expert*innen zeigen, wie sich das Berufsfeld gerade neu erfindet - und was jetzt zu tun ist.

Große, aus bunten Klemmbausteinen gebaute Buchstaben ‚UX‘ stehen vor einem gelben Hintergrund. Um die Basis der Buchstaben herum befinden sich viele kleine Figuren und Bausteine, als würden sie gerade an den Buchstaben bauen oder sie zerlegen.

Auf einen Blick

UX verliert zwar an formaler Sichtbarkeit, gewinnt aber als strategische, systemische Verantwortung in Unternehmen an Einfluss – vorausgesetzt, UX-Professionals passen ihre Rollen, Sprache und Kompetenzen an den Wandel an.

  • Der Begriff „UX“ wird zunehmend aus Jobtiteln gestrichen, weil Rollen und Zuständigkeiten verschwimmen – was aber den Blick auf UX als ganzheitliche Denkweise schärft.
  • UX entwickelt sich zur dezentralen Haltung im Unternehmen: Nicht mehr einzelne Personen sind zuständig, sondern ganze Teams tragen Nutzerzentrierung mit.
  • Professionals müssen sich von starren Berufsbezeichnungen lösen und sich als strategisch denkende Schnittstellenakteure mit klarem Wirkungsprofil positionieren.
  • KI verändert die UX-Arbeit fundamental – sie automatisiert Routinetätigkeiten, verlangt aber umso mehr Urteilsvermögen, Kontextverständnis und ethische Reflexion.
  • Zukunftsfähige UX-Expert*innen kombinieren Fachwissen mit Business-Verständnis, interner Vermittlungskompetenz und der Fähigkeit, ihren Impact sichtbar zu machen.

Der Begriff UX bröckelt – und das ist nicht neu

Die Streichung des Begriffs „UX“ aus Jobtiteln – wie zum Beispiel bei Shopify – war kein plötzlicher Bruch, sondern eine sichtbare Konsequenz einer längeren Entwicklung. In vielen Organisationen sind UX-Rollen unklar definiert, ihre Zuständigkeiten verschwimmen und ihre Wirkung wird oft unterschätzt oder missverstanden. Die Berufsbilder im UX-Bereich haben sich über Jahre hinweg ausdifferenziert, aber selten geschärft.

Gleichzeitig ist der Unterschied zwischen methodischem UX-Fachwissen und rein visuell getriebenem Design oft unsauber gezogen worden – sowohl in der Praxis als auch in der Außendarstellung. Der Wunsch nach klareren Rollenbezeichnungen, die tatsächliche Kompetenzen widerspiegeln, wird lauter. Die Diskussion über den „richtigen“ Titel verdeckt dabei jedoch eine viel zentralere Frage: Wer übernimmt in Zukunft die Verantwortung für Nutzerzentrierung?

"Der UX-Designer ist ja oft sowieso eine Mogelpackung, sowohl die Stellenausschreibung ist eine Mogelpackung, als auch das, was ich da bekomme."

 

Susanne Schmidt-Rauch

UX wird zur unternehmensweiten Haltung

Immer deutlicher wird: UX ist kein reiner Designprozess, sondern eine systemische Denkweise, die sämtliche Phasen der Produktentwicklung – und darüber hinaus – beeinflusst. In modernen Organisationen verteilt sich Nutzerzentrierung längst auf mehrere Rollen: Produktmanagement, Engineering, Marketing, Customer Support. Die klassische UX-Rolle wird dadurch überformt.

Die Folge: UX wird immer mehr zu einer Querschnittsfunktion, die nicht zentral, sondern dezentral verankert ist – als Haltung, nicht als explizite Rolle. Wer heute im UX-Bereich arbeitet, bewegt sich oft in Schnittstellenrollen und wird zu einer vermittelnden Instanz: zwischen Business, Technik, Nutzerinteressen und Strategie. Diese Entwicklung bringt viel Einfluss – aber auch Unsichtbarkeit.

Der Spagat zwischen Wirksamkeit und Identitätskrise

Während UX an strategischer Bedeutung gewinnt, geraten klassische Berufsidentitäten unter Druck. Viele Professionals identifizieren sich mit Begriffen wie „UX Designer“, „Researcher“ oder „Interaction Architect“. Doch in crossfunktionalen Teams verschwimmen die Grenzen zunehmend.

Das führt zu einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite steigt die Verantwortung – auf der anderen Seite verschwindet die Sichtbarkeit. Besonders in großen Organisationen droht UX in der Menge anderer Disziplinen unterzugehen, wenn es nicht klar kommuniziert, welchen spezifischen Beitrag es leistet. Gleichzeitig erschwert die begriffliche Unschärfe die Karriereentwicklung: Es fehlen nachvollziehbare Kompetenzpfade, Rollenprofile und Wachstumsperspektiven.

KI verändert die UX-Praxis – aber nicht ihren Kern

Künstliche Intelligenz verändert die UX-Arbeit rasant. Viele Aufgaben, die früher manuell erledigt wurden – etwa User Flow-Erstellung, Interface-Skizzen, Textvarianten oder sogar ganze Research-Planungen – können heute automatisiert werden. KI beschleunigt, vereinfacht und erweitert den Handlungsspielraum.

Doch genau das verschiebt die Anforderungen an UX-Professionals. Sie werden weniger zu Produzierenden, mehr zu Bewertenden. Statt Tools zu bedienen, müssen sie in der Lage sein, automatisierte Vorschläge in den richtigen Kontext zu setzen – fachlich, ethisch, strategisch. Das erfordert nicht nur technisches Verständnis, sondern eine fundierte UX-Expertise, um Qualität, Relevanz und Nutzbarkeit zu beurteilen.

UX als zukunftsfähige Verantwortung – nicht als starre Rolle

Die zentrale Erkenntnis der Expert*innen: UX entwickelt sich von einem Berufsbild zu einer unternehmensweiten Verantwortung. Das bedeutet jedoch nicht, dass UX verschwindet – sondern dass es sich neu strukturiert. Es wird zur strategischen Fähigkeit, die zunehmend über den einzelnen Jobtitel hinausgeht.

Damit wachsen aber auch die Anforderungen: Wer künftig erfolgreich in UX arbeiten möchte, braucht neben methodischem Know-how ein tiefes Verständnis für Business-Zusammenhänge, technologische Entwicklungen (insbesondere KI) und interne politische Prozesse. Sichtbarkeit, Anschlussfähigkeit und Überzeugungskraft sind entscheidender denn je.

„Wenn wir verstehen, wie das Business funktioniert, haben wir unseren Platz am Tisch. Wie wir heißen, ist eigentlich egal.“

Thomas Vöhringer-Kuhnt

Konkrete Empfehlungen für deinen UX-Weg

1. Positioniere dich jenseits des UX-Buzzwords

  • Nenn dich nicht „UX Designer“, wenn du Strateg*in, Researcher oder Facilitator bist.
  • Erfinde keine neuen Fantasie-Titel – erkläre, was du wirklich tust.
  • Nutze präzise Begriffe wie „UX Strategy“, „Research Ops“, „System Design“, „Human Factors“.

2. Werde zur vermittelnden Instanz im Unternehmen

  • Bring UX-Wissen in Produktentscheidungen ein – proaktiv, nicht auf Zuruf.
  • Hilf anderen Rollen, UX selbstständig mitzudenken (Coaching statt Kontrolle).
  • Arbeite an der UX-Maturity deines Unternehmens – auch wenn du „nur“ eine Person bist.

3. Lerne KI nicht als Tool, sondern als Arbeitsumgebung

  • Verwende KI täglich – aber bewerte, nicht nur prompten.
  • Automatisiere repetitive UX-Tätigkeiten – und nutze die gewonnene Zeit für strategische Arbeit.
  • Entwickle Kriterien, wann KI helfen darf – und wann menschliche Urteilsfähigkeit gefragt ist.

4. Mach deine Arbeit sichtbar

  • Kommuniziere dein „Why“ – nicht nur deine Methoden.
  • Visualisiere Impact: Welche Entscheidungen wurden durch deine Arbeit besser?
  • Werde im Unternehmen zur Stimme der Nutzer*innen – nicht zur Methode im Schatten.

5. Business-Kontext verstehen und mitgestalten

  • Entwickle ein tiefes Verständnis für Geschäftsmodelle, Marktlogiken und Kennzahlen.
  • Argumentiere UX-Wertbeiträge stets im Rahmen unternehmerischer Ziele.

Fazit: UX wird nicht abgeschafft – es wird endlich ernst genommen

Der Wandel ist unaufhaltsam: UX wird vom Jobtitel zur unternehmensweiten Verantwortung. Das macht den Beruf anspruchsvoller, aber auch relevanter denn je. Wer sich jetzt neu positioniert, kann künftig viel bewegen – in Produkten, Prozessen und in der Kultur von Organisationen.

Was denkst du – ist das noch UX oder schon etwas ganz Neues?
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