German UPA | Beitrag vom 16.09.2025 –
Warum User Research (immer noch) kein Selbstläufer ist – und wie du das änderst
Lead: Wer, was, wann, wo, warum, wie?
User Research ist essenziell, um digitale Produkte und Services sinnvoll und wirksam zu gestalten. Dennoch bleibt die Disziplin in vielen Organisationen ein Add-on, das bei Zeit- oder Budgetdruck als erstes gestrichen wird. Sonja Wilczek, Senior User Researcher beim DigitalService des Bundes, zeigt auf, wie Forschung sinnvoll eingebettet wird – und welche Strategien wirklich funktionieren, um sie im Unternehmensalltag zu verankern. Ihre Erfahrungen reichen von Tier Mobility über ImmoScout24 bis zur Bundesverwaltung – und liefern einen seltenen Einblick in zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Der härteste Unterschied: Privatwirtschaft vs. öffentliche Hand
Warum ist User Research wichtig? Auf diese Frage würden die meisten UX Professionals eine überzeugende Antwort liefern. Doch die entscheidende Frage lautet: „Wofür eigentlich?“
Ein plakatives Negativbeispiel: der Segway. Technologisch spannend, aber letztlich eine Lösung ohne Problem. Das Produkt scheiterte, weil es zentrale Bedürfnisse wie Transport, Geschwindigkeit oder Familienfreundlichkeit ignorierte.
Im öffentlichen Sektor dagegen geht es nicht um Konkurrenz, sondern um gesellschaftliche Teilhabe. Es geht um:
- Effizienz in der Verwaltung
- Transparenz staatlicher Prozesse
- Digitale Inklusion
- Vertrauen in die Demokratie
Doch mit dem Paradigmenwechsel kommt ein neuer Druck: Das digitale Amt darf keine Frustration auslösen – auch nicht bei Menschen mit geringer digitaler Kompetenz oder besonderen Bedürfnissen. Dafür braucht es User Research. Dringend.
Realitätsschock: Du kommst nie in eine leere Organisation
Egal ob Konzern oder Behörde – Organisationen haben immer eine Vorgeschichte:
- Gewachsene Strukturen
- Bestehendes (teilweise implizites) Wissen
- Prozesse, Tools, Hypothesen und Annahmen
Der erste Schritt ist daher nicht das Research. Es ist das Verstehen der Organisation:
- Welche Werte gelten hier?
- Wie trifft man Entscheidungen?
- Wer hat in der Vergangenheit schon „Forschung“ gemacht – und wie?
Beim DigitalService half ein einfacher, aber effektiver Workshop: Alle Unternehmenswerte wurden an die Wand gepinnt – und gemeinsam mit Mitarbeitenden wurde erarbeitet, wie User Research diese Werte sichtbar unterstützen kann. Ein simples Alignment-Format, das nachhaltige Wirkung zeigt.
Enabling, Maturity und kleine Schritte: Was wirklich funktioniert
Enabling: Wer kann Forschung machen – und wie gut?
Sonja unterscheidet drei Ebenen der Demokratisierung:
- Zugang zu Erkenntnissen schaffen
→ Wer sind unsere Nutzenden? Was erleben sie? Was brauchen sie? - Empathie erzeugen durch Einbindung
→ Stakeholder zu Tests einladen. Beobachten lassen. Betroffen machen. - Befähigen durch Unterstützung
→ Vorlagen, Sparrings, Guidelines, Trainings – abgestimmt auf Skilllevel.
Besonders spannend: In einem Ministeriumsprojekt wurde eine Stakeholderin im Zug (!) in ein Interview-Training eingeführt – und führte später selbst Interviews durch.
Maturity messen – mit Maß
Maturity-Modelle gibt es viele. Sonja entwickelte ein eigenes, angepasstes Modell mit einer klaren Ausrichtung:
- Zehn Statements zu Budget, Prozessen, Wissen, Zugänglichkeit, Inklusion etc.
- Bewertung über eine interne Umfrage
- Ziel: Herausfinden, wo die größten Lücken aus Sicht der Mitarbeitenden bestehen
Kleine Impact-Geschichten zählen mehr als große Visionen
Statt monatelanger Strategiestudien helfen manchmal einfache Maßnahmen mit schnellem Effekt:
- Unmoderierter Usability-Test
- Kleine Interviews entlang einer User Journey
- Wording-Änderungen, die die Conversion messbar erhöhen
So geschehen beim E-ID-Projekt: Der ursprüngliche Brief zur Online-Freischaltung des Personalausweises wurde von Nutzenden schlicht nicht verstanden. Nach dem Research wurde der Text angepasst. Heute ist diese Geschichte ein interner Klassiker – und wird regelmäßig in der Organisation erzählt, wenn es um den Nutzen von User Research geht.
8 ultrakonkrete Empfehlungen für UX-Professionals, die Research verankern wollen
- Organisation analysieren – nicht nur Produkt
Finde heraus, wie Entscheidungen getroffen werden und wer das Research-Potenzial blockiert oder beflügelt. - Keine Definitionskämpfe führen
Lass Begriffe wie „UX“ oder „User Research“ nicht zur Debatte werden. Zeig den Nutzen über Wirkung, nicht über Richtigkeit. - Maturity messbar machen – aber pragmatisch
Nutze einfache Skalen und klare Aussagen, um Schwächen sichtbar zu machen. - Altes Wissen integrieren, nicht ignorieren
Viele Organisationen haben implizites Wissen – wenn du es übergehst, schadest du der Akzeptanz. - Research als Service für Stakeholder anbieten
Integriere deine Stakeholder in Screener, Interviewleitfaden und Analyse. Nimm sie mit. - Pilot-Projekte mit Vorbildfunktion aufsetzen
Mach ein Projekt so transparent und nachvollziehbar, dass andere es kopieren wollen. - Fehlertoleranz erhöhen – auch bei UX-Teams
Enabling heißt: Andere machen Fehler. Micromanagement zerstört das Vertrauen. - Kommunikation vor Methodik
Erkläre, warum ihr was macht – nicht nur wie. Und wiederhole es. Oft.
Und was ist mit dem Recruiting?
Ein Dauerbrenner – aber kein Grund zu verzweifeln. Die Lösung? In den Kontext gehen.
In der Privatwirtschaft hilft Sales oft beim Zugang. Bei Behörden sind es oft Fachabteilungen. Und für Zielgruppen mit geringer digitaler Affinität? Geduld, Partnernetzwerke und vor allem: Verständnis für ihre Lebensrealität.
Fazit: Verankern braucht Vertrauen – und vor allem Zeit
Echte Verankerung passiert nicht mit Templates oder einem Methoden-Canvas. Sie entsteht durch:
- Verständnis für interne Systeme
- Gezieltes Enabling und gute Kommunikation
- Strategisches Stakeholder-Management
- Mut, Research klein zu starten – aber groß zu denken
Und während Tools wie unmoderierte Tests (z. B. mit RapidUserTests oder Maze) helfen können – am Ende ist Research ein Beziehungsprojekt. Kein Tool der Welt ersetzt den Moment, in dem ein Stakeholder live sieht, wie jemand an seinem Produkt scheitert.
Die wichtigsten Learnings in Kürze:
- Im öffentlichen Sektor ist Nutzerzentrierung gesetzlich verankert – aber strukturell noch lange nicht umgesetzt.
- Jede Organisation tickt anders – Standardprozesse sind selten 1:1 übertragbar.
- Erfolgsgeschichten sind die beste Werbung für Research.
- Maturity misst man besser qualitativ als mit Benchmarks.
- Inklusives Research braucht Zeit, Partner und kreative Recruiting-Wege.
- Enabling funktioniert nur, wenn UX-Teams Kontrolle abgeben.
- Verankerung ist kein Sprint – sondern ein Marathon.