German UPA | Beitrag vom 16.04.2014 –
User Centered Design für Prozessleitsysteme in der Industrieautomation
Die Nahrungs- und Futtermittelindustrie ist geprägt von enormem Kostendruck und höchsten Ansprüchen an Funktionalität und Zuverlässigkeit der Produktionsanlagen. Mit immer komplizierter werdenden Fertigungsprozessen und zusätzlichen Ansprüchen an Überwachung und Nachverfolgbarkeit rückt die Benutzerfreundlichkeit der Steuerungssoftware immer weiter in den Vordergrund. Die von dem Projektierer erstellte Steuerungssoftware wird von geschulten Experten wie Anlagenfahrern genutzt, kommt aber auch in Kontakt mit Lieferanten oder Zulieferern, die Teile des Programms ohne eine große Einführung nutzen können müssen.
Um den Ansprüchen dieser verschiedenen Nutzergruppen gerecht zu werden, sollte das User Centered Design (UCD) schon im Entwicklungsprozess fest verankert sein. Hierzu wurden während einer mehrjährigen Entwicklung mehrere UCD Methoden und Prozesse getestet. An praktischen Beispielen zeigen wir, die bei uns durchgeführten erfolgreichen und auch gescheiterten Ansätze.
Umsetzung von UCD in der Entwicklung
Besonders bei vielschichtigen Anwendungen wie einem Prozessleitsystem ist Wert darauf zu legen, die Komplexität der Bedienung in der Oberfläche effizient nutzbar zu machen. Um eine spätere Unzufriedenheit zu vermeiden sollen bereits im Gestaltungsprozess benutzerzentrierte Methoden zur Umsetzung eingesetzt werden. Die Nutzung von User Centered Design ist in dem Entwicklungsprozess anzustreben um eine hohe Akzeptanz beim zukünftigen Nutzer zu erzielen. Die Verwendung soll bereits früh im Entwicklungsprozess manifestiert werden um ein konsistentes Produkt bereitzustellen.
Es gibt zahlreiche Quellen um zu erfahren, was zur Erstellung eines benutzerfreundlichen Programms getan werden kann. Jedoch muss jedes Entwicklungsteam selbst herausfinden wie diese Ansätze umgesetzt werden können. Dies wird je nach Größe des Teams und des Produktes variieren.
Eine Auswahl von uns durchgeführter Möglichkeiten zur Einbindung von User Centered Design Methoden werden in den folgenden Abschnitten erläutert.
Dies ist ein Konglomerat aus UCD Methoden unter anderem aus (Dahm 2006) und (Noyes 1999) sowie Prozessen und auch Werkzeugen. Wir möchten hier Ansätze zur praktischen Umsetzung sowie unsere Erfahrungen, Aufwände und Nutzen der Methoden zusammenfassen.
Wir beschäftigen uns unter anderem mit den folgenden Themen:
- Erstellen von Prototypen (Rapid Prototyping)
- Feldstudien
- Usability Evaluation
- Wiki und Team Blog zur Kommunikation
Feldstudien
Wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es auch im User Centered Design den Bereich von Feldstudien. Hierbei wird eine Untersuchung im “Feld”, also außerhalb der Entwicklungsumgebung und direkt beim Endnutzer durchgeführt. Angelehnt an Feldstudien in der Biologie geht es hier darum den Endnutzer lediglich zu beobachten und zu studieren. Es können Verhaltensmuster und Emotionen erkannt werden.
Feldstudien sind ein sehr einfaches Mittel, können aber nur mit einem fertigen oder vergleichbaren Produkt durchgeführt werden. Da sich unser Produkt noch in der Entwicklung befand, haben wir die Feldstudien mit dem Vorgänger sowie mit vergleichbaren Produkten durchgeführt. Dies erfolgte schon früh in der Entwicklung mit allen Entwicklern. Uns war es wichtig die Feldstudien nicht anzukündigen und als solche anzumelden. Es sollte nicht eine Delegation von 4-8 Menschen gleichzeitig beim Kunden auftauchen und sich das Werk zeigen lassen. Ein solcher Termin wird sonst eher zu einer Demonstration seitens des Kunden. Unter solchen Umständen können normale, tagtägliche Handlungsabfolgen nicht beobachtet werden. Wir haben uns daher entschieden Einzelbegleitungen einzuführen. Dabei ist je ein Entwickler mit dem Ansprechpartner des Kunden vor Ort gefahren um kleine Wartungen durchzuführen. Unter Führung des Ansprechpartners und nicht des Kunden konnte so das ganze Werk und jeder Arbeitsplatz minimal invasiv beobachtet werden.
Feldstudien stellen für uns ein sehr effizientes und finanziell wie zeitlich kostengünstiges Mittel dar. Sie benötigen kaum Vorbereitungszeit, die Durchführung ist einfach und lediglich für die Dokumentation fällt Bearbeitungsaufwand an. Der Nutzen dieser Methode ist schwer quantitativ zu messen. Wir versprechen uns von ihr eine bessere Grundlage für grundlegende Designentscheidungen und besseres Verständnis für Use Cases. Die Entwickler bekommen ein besseres Gefühl für die Anwendungsumgebung in Form von Stress, Zeit, Anlagenumgebung, Prioritäten, PC-Erfahrung und Ziele der verschiedenartigen Nutzer.
Prototypen
Prototypen in der Softwareentwicklung können in vielen Formen kommen und verschiedene Ziele haben. Ein Prototyp kann ein gezeichnetes Storyboard, ein Video, eine funktionierende Teillösung oder eine interaktives Mockup sein.
Für uns sollen Prototypen vor allem zur Ergänzung der Requirementsanalyse dienen. Dabei werden die für uns wichtigen Ziele nach (Verhamme 2009) angestrebt:
- “Increases quality of requirements by helping correcting misunderstandings and ambiguities of requirements specifications.”
- “Exploration and testing the product.”
- “Identify shortcomings and design inconsistencies.”
- “Prevention from requirements- and scope-creep.”
Die Ausrichtung auf das Ermitteln von Requirements drängt sogleich auch mehr in die Richtung von Low-Fidelity Prototypen, da diese in der frühen Entwicklungsphase angebracht sind. Sie stellen ein sehr gutes Mittel dar, um eine gemeinsame Grundlage für Diskussionen zu schaffen. Anhand von interaktiven Low-Fidelity Prototypen kann präziser innerhalb des Entwicklungsteams als auch mit dem Kunden kommuniziert werden. High-Fidelity Prototypen die wir mit Blend angelegt haben, stellten einen zu großen Aufwand und zu geringen Nutzen dar. Das bei einem High-Fidelity Prototypen erwartete Look-and-Feel der Anwendung anzulegen ist sehr komplex und konnte in unserem Fall auch nicht in das Produktivsystem, wegen schlechter Performanz, übernommen werden. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass einige Kunden bei einem gut aussehenden High-Fidelity Prototypen denken, dass die Applikation doch schon eigentlich fertig wäre und sich dann über eine lange Entwicklungszeit wundern.
Usability Evaluation
Die Usability Evaluation ist ein formaler Usability Test. Hierbei werden Probanden realistische Aufgaben gestellt, die mit der Applikation erfüllt werden sollen. Für eine unbeeinflusste Durchführung befindet sich der Proband dabei in einem separaten Raum. Häufig werden richtige “Labore” genutzt, bei denen der Proband durch einseitige Spiegel und Videoaufzeichnungen bei der Durchführung beobachtet werden kann. Sprachaufnahmen und Eye-Tracking können diesen Test vervollständigen. Dies ist einer der aufwändigsten Tests, der aber auch sehr umfangreiche empirische Ergebnisse liefert.
Auf Grund des Aufwands, eignet sich dieser Test eher im späteren Testverlauf. Er ist nicht nur zeitlich sondern auch finanziell sehr aufwändig. Wir wollen in naher Zukunft einen abgespeckten Usability Test durchführen. Das Motto dabei lautet ganz ähnlich zu den Ingenieuren ohne Grenzen: Low-Cost High-Efficiency. Dieser Test besteht dann aus einem speziell ausgerüsteten Laptop auf dem die zu testende Applikation läuft. Der Proband wird bei der Ausführung mit Hilfe einer Webcam aufgenommen (Audio + Video). Seine Interaktionen mit der Software werden mit einem Screen-Recording Tool aufgenommen. In Kombination mit der Think Aloud Technik (Nielsen 1993), bei der der Proband laut ausspricht was er sieht und denkt, sollen so ähnliche Daten wie zu einem formalen Usability Test gewonnen werden.
Company 2.0 - Wiki und Team Blog
Der Begriff Company 2.0 ist angelehnt an die Bewegung des Web 2.0. Er steht für die grundsätzliche Tendenz weg von starren, festgelegten Inhalten hin zu frei veränderbaren Inhalten und direkter Kommunikation. Letztendlich geht es um die engere Vernetzung aller Mitarbeiter in einer Firma und dem effizienten Bereitstellen von Informationen. Große Eckpfeiler dieser Bewegung sind Werkzeuge wie freie Blog-Dienste oder Wikis. Aber was haben diese Möglichkeiten mit User Centered Design zu tun?
User Centered Design befasst sich damit “wie die potenziellen Anwender denken und handeln, welche Aufgaben sie mit dem Produkt lösen wollen und in welchem Umfeld sie dies tun” (Moser, Suter 2013). Mit Hilfe des Wikis und des Blogs aus dem kostenlosen Sharepoint 2013 wollen wir unser Entwicklungsteam mit aufwändigen Usability Tests entlasten. Anstelle auf die potenziellen Anwender zuzugehen, schaffen wir die Möglichkeit, dass sie selbst aktiv mitgestalten können. Hierzu werden über das Wiki und das Blog Entwicklungsarbeiten nicht nur bekanntgegeben, sondern auch die Planungen schon in Form von interaktiven Prototypen veröffentlicht. Durch diese Öffnung und den verständlichen Zugriff auf die Planungsstände werden Entwicklungsvorhaben schon früh dezentral validiert. Wir erhalten so weiteren Input, wie die Nutzer Aufgaben verstehen oder welche Aufgaben von den vorhandenen Planungen so noch nicht oder nur schlecht möglich sind.
Ein weiterer und nicht zu vernachlässigender Punkt sind die praktisch von selbst und graduell erfolgenden Schulungen über das Wiki. Letztendlich wird die Applikation einen gewissen Komplexitätsgrad aufweisen, da sie auch sehr komplexe Aufgaben lösen muss. Durch die schrittweise Evaluation und konstante Dokumentation lernen die Anwender schon bei der Entstehung die Applikation zu bedienen. Durch die fortwährende Einflussnahme identifizieren sie sich besser und können die Anwendung am Ende besser ausnutzen.
Zusammenfassung und Ausblick
Der vorliegende Beitrag zeigt die praktische Umsetzung von User Centered Design Methodiken im Entwicklungsprozess. Die wichtigsten umgesetzten Punkte sind:
- Planung mittels interaktiver Prototypen mit Indigo Studio
- Offenlegung aller Planungsstände im firmenweiten Wiki und Blog
- hierdurch Validierung aller Stakeholder
- Schulung aller Entwickler durch Feldstudien vor Ort
- Feldstudien werden nicht angekündigt und “verdeckt” durchgeführt
- Durchführen von Usability Tests mit verschlankten Mitteln und Umfängen
Wir konnten damit zeigen, dass auch kleine Entwicklungsteams mit einfachsten Mitteln Usability Engineering betreiben können. User Centered Design kann also auch mit sehr geringem Zeit- und Kostenaufwand durchgeführt werden.
Links
Dieser Artikel basiert auf dem Usability Professionals Beitrag „Human Centered Design für Prozessleitsysteme in der Industrieautomation“.
Über die Autoren
Maike Petzold studierte Medien und angewandte Informationstechnologie (heute Medieninformatik) an der Fachhochschule Düsseldorf. Anfang 2011 beendete sie ihre Bachelorarbeit mit dem Thema “Konzeption und Implementierung einer Kalkulationssoftware zur Optimierung von Stalleinrichtungen” in der Entwicklungsabteilung der Big Dutchman AG. Im Anschluss daran nahm Frau Petzold ihre Tätigkeit bei der Schulz Systemtechnik GmbH im Bereich Anlagen- und Automatisierungstechnik auf. Sie beschäftigt sich hier mit der Gestaltung und Realisierung moderner Software.
Peter Hartmann studierte Informatik und Ingenieurswissenschaften an der Technischen Hochschule Hamburg-Harburg. Zum Januar 2012 beendete er seine Diplomarbeit bei der Group Research & Advanced Engineering der Daimler AG zum Thema Natural User Interfaces. Seitdem arbeitet Herr Hartmann an der Gestaltung und Realisierung von moderner Software für die Anlagen- und Automatisierungstechnik bei der Schulz Systemtechnik GmbH (http://schulz.st).